Identität ist kein Schicksal, sondern eine Behauptung.

Ich vermisse das Schlagzeug. In meiner Schulzeit war ich in diversen Bands und Formationen für den rhythmischen Krach verantwortlich und habe zu Hause oft stundenlang begeistert zu meinen Lieblings-Songs getrommelt.

Inzwischen hatte ich seit einigen Jahren keine Drumsticks mehr in der Hand. Ich könnte wahrscheinlich immer noch relativ gut Schlagzeug spielen. Aber ich tue es derzeit nicht.

Bin ich trotzdem noch Schlagzeuger?

Wer bin ich?

Identität ist ein spannendes und weitreichendes Thema.

Wir alle haben eine, ob wir wollen oder nicht. Genauer gesagt haben wir mehrere: Unser Gesamt-Selbst besteht aus einem Mosaik zahlreicher kontextabhängiger Teil-Identitäten. Die können zum Teil unvereinbar wirken: Je nachdem, an welchem Wochentag und in welcher Situation man mich antrifft, unterweise ich Polizisten im Nahkampf, krabbele auf allen Vieren hinter meinem Sohn hinterher oder brüte über irgendeinem intellektuellen Thema.

Für junge Menschen ist die Suche nach der eigenen Identität eine bedeutsame Angelegenheit. Zum einen werden einige Fragen rund um den Platz in die Gesellschaft mit Anfang 20 von selbst immer drängender. Zum anderen werden einige der relevantesten Entscheidungen des Lebens — wie beispielsweise die, mit wem man eine Langzeitbeziehung eingeht, Kinder bekommt oder welchen Beruf man ergreift — von der Antwort auf die Frage Wer bin ich? erheblich beeinflusst.

Daher stehen viele junge Erwachsene regelmäßig vor dem Rätsel, ob sie mit ihrer Identität einverstanden sind oder daran etwas ändern wollen — was die spannende Frage aufwirft, wie und inwieweit das überhaupt möglich ist.

Wie bin ich?

„Es ist leichter, sich in eine neue Art des Denkens zu handeln, als sich in eine neue Art des Handelns zu denken.“ (Unbekannt)

Schaut man genauer hin, ist die Frage Wer bin ich? nicht zu beantworten, ohne dass man sich auch fragt: Wie bin ich? beziehungsweise Wie handle ich?

Ohne entsprechendes Verhalten ist eine Identität nur eine Behauptung – womöglich sogar eine Anmaßung. Schlimmer noch: Das Eigen-Narrativ kann eine blanke Lüge sein, wenn man sich genau entgegengesetzt verhält.

Man kann sich noch so sehr als geduldiges, liebevolles Elternteil sehen: Rastet man gegenüber seinen Kindern regelmäßig aus, ist man keins.

Wer sich selbst als großzügig und hilfsbereit wahrnimmt, in der S-Bahn aber nie einen Euro für einen Obdachlosen übrighat, macht sich etwas vor.

Und ich kann sicherlich ein Schlagzeug bedienen. Aber solange ich es nicht regelmäßig tue, bin ich kein Schlagzeuger.

Pragmatische Identitätsbildung

Die Übereinstimmung zwischen den eigenen Überzeugungen und dem gezeigten Verhalten nennt man Integrität — und sie ist, so meine Wahrnehmung, ein menschliches Grundbedürfnis.

Man ist, was man tut, nicht was man gern tun würde.

„Ihre Identität wird durch Ihre Gewohnheiten bestimmt. Mit jeder Handlung stimmen Sie darüber ab, welche Art Mensch Sie werden wollen.“(James Clear, „Die 1%-Methode“)

Eine Teil-Identität ist kein unausweichliches Schicksal. Zeigt man das Verhalten, das man für richtig oder wünschenswert hält, manifestiert sich die eigene Identität irgendwann — sowohl in der Selbstwahrnehmung als auch in Form von Fremdzuschreibungen.

Genauso wichtig kann es sein, ein bestimmtes Verhalten zu unterlassen, um eine Teil-Identität zu ändern. Wer beispielsweise jemand sein möchte, der sich fit hält, muss womöglich erst einmal seinen Umgang mit Alkohol ändern, bevor er über Sport oder Schlaf nachdenkt.

Dabei gilt: Die Identität ist eher eine Leitplanke als eine Schiene. Niemand hört auf, ein sportlicher Mensch zu sein, wenn er über die Weihnachtsfeiertage keinen Sport treibt und viel Süßkram isst. Ein gelegentlicher Moment der Unbeherrschtheit gegenüber dem Kind ändert nichts an einer geduldigen und nachsichtigen Grundqualität als Elternteil.

Die englische Sprache hält in diesem Zusammenhang eine sehr hilfreiche, aber schwer zu übersetzende Phrase bereit: More often than not. Etwas holprig könnte man im Deutschen sagen: In der Mehrheit der Fälle.

Wann immer man sich in einem Kontext wiederfindet, in dem man an einer Teil-Identität arbeiten möchte — in meinem Fall jedes Mal, wenn ich am Schrank mit den Süßigkeiten vorbeilaufe, die ich gern meiden will —, hat man die Chance, sich zu beweisen, dass man so jemand sein kann, statt immer noch dieser jemand zu sein.

Man muss nur in der Mehrheit der Fälle das entsprechende Verhalten zeigen.

Eigentlich ganz simpel — aber nicht immer einfach.


Dieser Text erschien ursprünglich als Ausgabe #69 meines Newsletters.