Entweder wird man freiwillig erwachsen — oder vom Leben erwachsen gemacht.
Im Jahr 2016, nach 22 Jahren Ehe, verlor Céline Dion ihren Ehemann René Angéli.
Nur zwei Tage – zwei Tage! – später verstarb auch ihr Bruder.
Die Trauer und der Schmerz der weltberühmten Sängerin müssen unbeschreiblich gewesen sein.
Halt und Trost fand sie in der Musik und der Interaktion mit ihren Fans.
Nur sechs Jahre später wurde ihr auch diese Zuflucht genommen, als bei ihr die seltene Krankheit Stiff-Person-Syndrom diagnostiziert wurde. Heftige, oft schmerzhafte Krampfanfälle und Versteifungen zwangen sie, ihre Welttournee abzusagen. Die grausame, unheilbare Erkrankung wird sie zunehmend lähmen, bis sie sich kaum noch bewegen kann.
Was sagt sie selbst dazu?
„Ich sehe mein Leben, und ich liebe jedes Stück davon. […]
Kann ich nicht rennen, werde ich laufen. Und wenn ich nicht mehr laufen kann, werde ich kriechen.“
—Céline Dion1
Erwachsener wird es nicht mehr.
Céline Dions Jahre voller Schicksalsschläge scheinen ein extremes Beispiel zu sein – aber das täuscht. Das Leben hält jede Menge unangenehme bis schreckliche Überraschungen für uns bereit. Ob uns eine davon schon morgen oder erst in einigen Jahrzehnten auf die Probe stellt, ist ausschließlich eine Frage von Stochastik, Glück, Pech, Zufall oder Schicksal — je nachdem.
Wärst du schon morgen bereit?
Wie regelmäßige Leser wissen, betrachte ich die persönliche Vorbereitung auf die Herausforderungen des Lebens als zentralen Bestandteil des Erwachsenwerdens.
Aber Erwachsenwerden ist nicht gleich Erwachsenwerden.
Erwachsende — junge Menschen, die ihren Reifungs- und Vorbereitungsprozess bewusst in Angriff nehmen und gestalten — treffen eine Entscheidung. Sie geben sich mit ihrem Status Quo nicht mehr zufrieden und wollen an sich arbeiten, wollen ihr Potenzial besser ausschöpfen. Vielleicht war eine unangenehme Erfahrung der Auslöser, vielleicht aber auch das Gefühl, auf der Stelle zu treten; in jedem Fall beginnen sie aus eigener Initiative einen aktiven Prozess des Erwachsens.
Dann gibt es das passive, antriebslose Heranreifen: Schlicht durch das Ansammeln von Lebensjahren und einige prägende Erfahrungen, die damit unweigerlich einhergehen, verliert man ein Stück seiner Kindlichkeit und wird erwachsener. Man wird gewissermaßen ins Erwachsenendasein gespült.
“Allein schon die Zeit bringt Erfahrung mit sich und damit auch Weitsicht. Das ist noch keine Weisheit, aber in der Regel wachsen einem dadurch Genüsse zu, welche die Jungen nicht kennen. […] wir [werden] unweigerlich älter, und wir können gar nicht anders, als dabei teilweise erwachsen zu werden.“
—Susan Neiman, „Warum erwachsen werden?“
Das mag für die allermeisten Lebensverläufe in der sicheren, wohlhabenden, liberalen westlichen Welt reichen, um einen Beitrag zu Arterhaltung und Konsumgesellschaft zu leisten. Aber:
Erstens bleibt man dabei weit hinter dem eigenen Potenzial zurück, was eine ganz eigene Tragödie ist.
Zweitens tut man nichts, um sich auf die nächste herausfordernde Situation vorzubereiten.
Mit etwas Pech wird man vom Schicksal also immer wieder kalt erwischt und weiß sich jedes Mal kaum besser zu helfen als ein Jugendlicher. Wer schonmal eine kindisch-empörte Trotzreaktion bei einem Menschen in seinen Vierzigern beobachtet hat, weiß, wovon ich spreche.
Und schließlich gibt eine unerfreuliche Variante des Erwachsenwerdens: Das Erwachsengemachtwerden. Das ins-Erwachsenendasein-gezerrt-werden — wenn elterliche Vernachlässigung, Verwaisen, Krieg, Elend oder andere tragische Schicksale viel zu junge Menschen in viel zu große Verantwortung zwingen. Umstände wie diese wünscht sich niemand, und unsere Gesellschaft gibt sich große Mühe, Betroffenen ein Auffangnetz zu bieten. Aber auch der beste Sozialstaat kann nicht verhindern, dass Schicksalsschläge dieser Dimension einen Reifungsprozess im Zeitraffer auslösen — und dass dabei einige Entwicklungsschritte zu kurz kommen.
“[S]olche Umstände bringen ebenso wahrscheinlich verbitterte und verängstigte Menschen hervor wie die mutigen, selbstbestimmten Menschen, die wir brauchen.“
—Susan Neiman, „Warum erwachsen werden?“
Werde erwachsen, solange du kannst
Ich behaupte: Die tragische Variante des Erwachsenwerdens wünscht man niemandem, die passive Variante ist alles andere als erstrebenswert. Aber eine von beiden erwartet jeden, der sich nicht zum aktiven Erwachsen entschließt.
Und: Zumindest das Szenario, dass wir irgendwann Waisen werden — also beide Eltern verlieren — ist enorm wahrscheinlich. Jeder weiß das. Und jeder, der eine gesunde Beziehung zu seinen Eltern hat, weiß, dass es fürchterlich wird, seine Eltern nacheinander zu beerdigen. Trotzdem scheinen das viele Menschen so lange zu verdrängen, bis sie sich plötzlich endgültig von einem Elternteil verabschieden müssen — wenn sie überhaupt die Chance dazu bekommen.
Ich versuche, relativ häufig und regelmäßig über unser aller Sterblichkeit nachzudenken. Und während das in Bezug auf meine Eltern noch relativ einleuchtend ist — wie gesagt: Die allermeisten von uns werden irgendwann Waisen und wissen das unterbewusst auch — , ist der Gedanke mit Blick auf meine Kinder oder meine Frau nahezu unerträglich. Ich muss Tränen wegblinzeln, während ich diese paar Worte schreibe.
“Der größte Unterschied besteht zwischen jemandem, der völlig untrainiert ist, und jemandem, der ein bisschen Training absolviert hat. Von da an wird man nur noch graduell besser – aber im Vergleich zum Untrainierten ist man regelrecht in einem anderen Universum von Wehrhaftigkeit unterwegs.“
—aus #74: Mentale Deckungsarbeit
Zur Klarstellung: Keine noch so rigorose mentale Vorbereitung und Arbeit an sich selbst garantiert, dass man eine plötzliche herausragende Krise unbeeindruckt als nächste Gelegenheit zur Selbstverbesserung im Tagebuch vermerkt. Die tragische Variante des Erwachsenwerdens hängt wie ein verflixt scharfes Damokles-Schwert über jedem jungen Menschen.
Aber: Resilienz oder die „innere Zitadelle“ der Stoiker; Frustrations- und Ambiguitätstoleranz; Kritik- und Konfliktfähigkeit; die Unterscheidung zwischen Kontrollierbarem und Unkontrollierbarem; Identität und Integrität; die Fähigkeit und Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme; und auch — siehe Céline Dion — die Auseinandersetzung mit Sterblichkeit.
All diese erwachsenen Qualitäten entwickelt man sehr viel zuverlässiger, wenn man bewusst daran arbeitet. Jeder hat das Potenzial, rechtzeitig zu einem Erwachsenden heranzureifen — aber das braucht Nachsicht mit dem gegenwärtigen Selbst als Nährboden sowie aktives Bemühen und Vorfreude auf das zukünftige Selbst als Dünger.
Die gute Nachricht ist: Das lohnt sich auch dann noch, wenn man bereits über seine ersten Schicksalsschläge gestolpert ist — womöglich waren sie der Weckruf, den es brauchte, um das eigene Erwachsen zu beginnen.
Erwachsen wird man schon.
Irgendwie. Halbwegs.
Man hat keine Wahl.
Aber: Jeder hat die Wahl, sich erwachsener zu machen, anstatt auf unangenehme Art erwachsen gemacht zu werden.
Dieser Text erschien ursprünglich als Ausgabe #80 meines Newsletters.
Fußnoten
- Original-Zitat aus „I am Céline Dion“:
“I see my life, and I love every piece of it. […] If I can’t run, I’ll walk. And if I can’t walk, I’ll crawl.”
Schreibe einen Kommentar