Was man von Elitesoldaten fürs Leben lernen kann

Vor seiner Karriere als erfolgreicher Schriftsteller war Jack Carr, der Autor der Buchreihe „The Terminal List“ rund um den ehemaligen Navy SEAL James Reece, selbst Angehöriger derselben Elite-Truppe der amerikanischen Armee. Wie sein Protagonist ist er ausgebildeter Scharfschütze und absolvierte zahlreiche Kampfeinsätze – nicht wenige davon inspirieren die Momente der Gewalt, die sein fiktiver SEAL durchstehen muss

Carr versucht, in seinen Büchern den nahezu unmöglichen Balance-Akt zwischen möglichst großer Realitätsnähe und den Erfordernissen der Geheimhaltung. Daraus resultiert ein manchmal langatmiger, für Enthusiasten aber spannender Detailreichtum, u.a. wenn es um Waffen geht.[mfn]Genauer: Um konkrete Modelle, ihre Geschichte, Funktionsweise, Geschichte der Hersteller, Zubehör, taktische Vor- und Nachteile und und und.[/mfn] Aber der Leser bekommt auch einen Einblick in diverse Aspekte der Ausbildung und Fertigkeiten von Elitesoldaten sowie in einige Taktiken und Denkweisen, die für ihre Erfolge und den sie umgebenden Mythos mitverantwortlich sind.

Einige Mantras und Vorgehensweisen aus dem Kosmos der Spezialeinheiten sind nicht nur für die gefährlichsten Krieger der modernen Welt hilfreich, sondern lassen sich auch in die Lebenswirklichkeit eines jeden Normalsterblichen übertragen. Was Spezialkräften hilft, sich auf lebensgefährliche Einsätze vorzubereiten oder Feuergefechte zu überstehen, dürfte für die meisten Stress-Situationen funktionieren, die wir üblicherweise erleben.


Keine Überraschungen

Vorbereitet sein

“Glück ist das Überbleibsel von Vorbereitung.“ – Jack Carr[mfn]Original-Zitat: „Luck is the residue of preparation.“[/mfn]

Das Klischee der schwarz bemalten Gesichter, die mitten in der Nacht langsam aus dem Wasser auftauchen, enthält eine gehörige Portion Realismus: Wann und wie immer es möglich ist, nutzen Spezialeinheiten den Überraschungseffekt zu ihrem Vorteil – und tun zugleich alles Menschenmögliche, um nicht selbst überrascht zu werden.

Sie nähern sich ungesehen an – und das nach Möglichkeit erst, nachdem sie sich bestmöglich auf den Einsatzraum und das Szenario vorbereitet haben: Sie haben das erforderliche Equipment dabei, um auf jede nur erdenkliche Entwicklung reagieren zu können; wenn die Zeit es zuließ, wurden bekannte Gebäude sogar maßstabsgetreu nachgebaut, um das Eindringen und die Durchsuchung der Räume vor dem realen Einsatz Dutzende Male üben zu können.

Was für eine Geiselbefreiung gilt, kann für alltäglichere Herausforderungen – eine schwierige Verhandlung, eine lange Reise mit kleinen Kindern oder ein heftiger Streit zwischen Ehepartnern – nicht falsch sein: Je besser man vorbereitet ist, umso unwahrscheinlicher sind böse Überraschungen. Das klingt offensichtlich – aber wie oft begeben wir uns erstaunlich unvorbereitet in Situationen, in denen durchaus etwas auf dem Spiel steht, und hoffen einfach, dass es gut läuft?[mfn]Mit den Worten von Oliver Burkeman: „Everybody is just totally winging it, all the time.“[/mfn]

“Hoffnung ist kein Plan.“ – Jack Carr[mfn]Original-Zitat: „Hope is not a course of action.“[/mfn]

Gib dich nicht damit zufrieden, auf’s Beste zu hoffen, dich aber überraschen zu lassen. Nicht, wenn du Verantwortung trägst oder andere sich auf dich verlassen. Nicht, wenn du dich selbst respektieren willst. Sei Profi. Bereite dich vor.

Situationsbeobachtung (situational awareness)

Eine Formulierung, mit der Carr sehr häufig das Verhalten von Spezialkräften in seinen Büchern beschreibt, ist „head on a swivel“, was so viel heißt wie „sich permanent umsehen.“

In der Welt der Sicherheitskräfte lernt man schnell, wie wichtig es ist, so oft und lange wie möglich die Umgebung zu beobachten. Je mehr man wahrnimmt, umso besser kann man reagieren – das gilt auch für uns Normalsterbliche.

Man muss nicht gleich wie ein potentieller Paranoia-Patient[mfn]Da ist sie wieder: Die völlig unnötige Alliteration ☑️[/mfn] durch die Welt gehen. Aber vielleicht wäre es im Straßenverkehr, im Gedränge auf einer Party oder in einer Gegend mit hoher Alltagskriminalität eine gute Idee, den Blick vom Handybildschirm zu nehmen und sich öfter mal umzusehen. Und Kopfhörer mit Noise Cancelling-Funktion sind eine super Sache – im Flugzeug, der Bahn, dem Bus oder einem vollen Café. Aber an einer Straßenkreuzung sollte man Autos kommen hören. Generell ist es im Alltag keine gute Idee, sich über Kopfhörer komplett akustisch von der Außenwelt abzuschirmen.


Handlungssicherheit unter Stress

Die Fähigkeit von Elitekräften, unter Hochstress einen kühlen Kopf zu bewahren und handlungsfähig zu bleiben, ist legendär. Wo normale Menschen vor Angst erstarren oder kopflos um ihr Leben rennen, bleiben sie gefasst, bewerten die Situation und treffen eine Entscheidung.

Ein wohl wenig überraschender Schlüssel zu dieser übermenschlich erscheinenden Fähigkeit ist sehr viel Training. Zwei weniger offensichtliche werden oft durch James Reece angewandt:

Atmung

Immer wieder kann der Leser den fiktiven Ex-SEAL dabei beobachten, wie er sich auf gefährliche Missionen oder herausfordernde Situationen vorbereitet. Neben der Überprüfung seiner Ausrüstung gehört dazu auch immer wieder eine bestimmte Atemtechnik: Das four-count tactical breathing, auch als „Box Breathing“ bekannt.

Es handelt sich dabei um eine bewährte Methode, um die Stressreaktion des eigenen Körpers vor der eigentlichen Situation zu reduzieren. Was James Reece und seine realen Kameraden auf der Anfahrt zu einer Mission im Kampfgebiet machen, kann uns bspw. vor einem Bühnenauftritt, einer Rede oder einer Prüfung helfen, die Nervosität zu verringern.

So funktioniert die Atemtechnik:

  1. Restluft ausatmen, bis die Lungen leer sind.
  2. Vier Zählungen lang durch die Nase einatmen.
  3. Die Luft für vier Zählungen anhalten. Dabei nicht verkrampfen, sondern möglichst entspannt bleiben.
  4. Vier Zählungen lang ruhig durch die Nase ausatmen.
  5. Die Lunge für vier Zählungen leer halten.
  6. Mindestens für einige Minuten wiederholen. Dabei die einzelnen Zählungen immer weiter verlängern.[mfn]deswegen nicht „Sekunden“, sondern neutraler counts = „Zählungen“[/mfn]

Hier gibt es eine visuelle Hilfestellung für die Atemübung.

Mantra

In diversen gewaltsamen Auseinandersetzungen und chaotischen Situationen ruft sich der fiktive Navy SEAL James Reece ein Mantra in Erinnerung, das ihm hilft, schnell wieder handlungsfähig zu werden:

Atme durch. Sieh‘ dich um. Triff eine Entscheidung.[mfn]Original-Zitat: „Take a breath. Look around. Make a call.“[/mfn]

Ist man mitten in einer hektischen, unübersichtlichen Situation wie beispielsweise als Ersthelfer bei einem Verkehrsunfall oder auf der Suche nach einem verloren gegangenen Kind, ist das ein guter Leitspruch, um schnell aus dem anfänglichen Chaos herauszufinden:

  1. Einen tiefen Atemzug nehmen – es ist erstaunlich, wie viele Menschen die Luft anhalten, nachdem sie sich erschreckt haben oder wenn sie angespannt sind. Sauerstoffmangel hilft garantiert nicht, das Problem zu lösen.
  2. Situation erfassen und einschätzen – Stresshormone sorgen möglicherweise für ein eingeschränktes Sichtfeld. Umso wichtiger ist es, sich aktiv und bewusst umzusehen. Ohne Informationen kann man nicht sinnvoll handeln.
  3. Eine Entscheidung treffen und handeln – je nach Situation ist man womöglich erstarrt, fühlt sich ohnmächtig oder hilflos oder hofft, dass jemand anderes zuerst handelt. Überraschung: Genau das hoffen alle anderen auch. [mfn]Schlagworte dazu: bystander effect und Verantwortungsdiffusion[/mfn] In den ersten Sekunden und Minuten kommt mit großer Sicherheit keine sofortige Hilfe – also kommt es auf dich an.

Das Leben hält für uns alle stressige Situationen bereit – und es sind gerade diese Momente, in denen es darauf ankommt, dass wir funktionieren. Sowohl im Vorfeld als auch mitten in der größten Hektik kann man einiges für die eigene Souveränität tun. 


Lebensführung

Auch jenseits von der Bewältigung konkreter Herausforderungen kann man der Welt der Spezialkräfte einige Weisheiten für das alltägliche Leben entnehmen.

Wachstum durch Herausforderungen

Jack Carr ist nicht der einzige ehemalige Navy SEAL, der einige Inhalte seiner eigenen Ausbildung zum Kommandosoldaten in Veröffentlichungen preisgibt. Jocko Willink ist ebenfalls ehemaliger SEAL mit einem inzwischen beachtlichen öffentlichen Profil – und auch er ist mit dem Transfer von Fertigkeiten und Wissen aus seiner Zeit beim Militär auf ein ziviles Leben erfolgreich geworden.[mfn]Es ist ein wiederkehrender running gag in der „Terminal List“-Reihe, dass erstaunlich viele Navy SEALs nach ihrem Ausscheiden aus dem Militär Bücher schreiben.[/mfn]

Das mit 13 Millionen Aufrufen bekannteste Video von Jocko Willink trägt den einfachen Titel „Good“. Darin umreißt er eine Fehlerkultur, nach der zu Streben sich nicht nur für Navy SEALs lohnt:[mfn]Zusätzlich sind einige Kommentare unter dem Video durchaus geeignet, die Laune aufzuhellen, denn natürlich hat die in dem Video geschilderte Mentalität ihre Grenzen.[/mfn]

„Wenn Dinge schlecht laufen, wird etwas Gutes daraus hervorgehen.“ -Jocko Willink

Natürlich ist es viel verlangt, jedem Moment des Scheiterns, jedem Rückschlag oder gar jeder Tragödie sofort Positives abgewinnen zu wollen. Aber: Je eher man es schafft, die eigene Perspektive auf das Geschehen von der eines hilflosen Opfers zu der eines handelnden Akteurs zu wandeln, umso früher findet man zurück in die Selbstwirksamkeit.

Bescheidenheit

Mit ein bisschen Glück und einiger Anstrengung wird man im Laufe seines beruflichen Lebens in irgendeiner Form ausgezeichnet: Man gewinnt Preise, bekommt finanzielle Bonus-Zahlungen oder sogar einen Orden.

Das Kommando Spezialkräfte, die Elite-Einheit des Heeres der deutschen Bundeswehr, erinnert daran, dass Belohnungen dieser Art nicht anderen, sondern einem selbst etwas sagen sollen:

Wir alle sind zu mehr fähig, als wir uns üblicherweise abverlangen. Unser Alltag erfordert selten, auch nur die Grenzen unserer Komfortzone zu besuchen.

Und doch sollten die Spezialkräfte dieser Welt uns eine Inspiration sein: Je mehr man sich in „Friedenszeiten“ fordert, vorbereitet und schult, umso weniger gerät man ins Wanken, wenn das Leben einem plötzlich Höchstleistungen abverlangt.