Umdenken, bis die Tränen kommen

„Die Sichtweise ist alles. Das heißt, wenn wir etwas in seine Teile zerlegen oder aus einem neuen Blickwinkel betrachten können, dann verliert es seine Macht über uns. […] Wie groß und unüberwindlich uns ein Hindernis erscheint, hängt davon ab, wie wir es sehen, wie wir es angehen, in welchen Zusammenhang wir es stellen und welche Bedeutung wir ihm geben.“
—Ryan Holiday in „Dein Hindernis ist dein Weg

Es ist eigentlich ein Nachmittag wie jeder andere: Unser Sohn löst im Wohnzimmer ein Puzzle, im Bett hält unsere Tochter ihren Mittagsschlaf.
Aber etwas ist anders als sonst: Ich stehe mit bebenden Schultern am Waschbecken und weine unkontrolliert. Ich kann die Tränen nicht zurückhalten, bin selbst überrascht von der Heftigkeit meiner Reaktion; erst nach einigen Sekunden und einem Schwung kaltem Wasser im Gesicht erlange mühsam meine Fassung zurück. Dann gehe ich zu unserem Sohn und schließe ihn wortlos fest in die Arme.

Ursächlich für meinen Gefühlsausbruch war ein kurzes Video auf Instagram, das mir zufällig in den Feed gespült wurde — und das brutale Reframing, das es ausgelöst hat.


Fast jeder kennt das: Man ist gerade in einen Zug eingestiegen, auf dem Nachbargleis steht eine weitere Bahn. Jetzt fährt einer der beiden Züge los — aber für einen Moment weiß man nicht genau, welcher der beiden. Oft haben wir sofort eine Vermutung, welcher es ist, nur um kurz darauf eines Besseren belehrt zu werden. Dabei könnten wir die Verwirrung mit einem einfachen Perspektivwechsel auflösen: Schaut man aus dem gegenüberliegenden Fenster zum Bahnsteig, kann man sofort erfassen, ob sich der eigene Zug bewegt oder nicht.

Ein anderes Beispiel: Auf die ärztliche Empfehlung eines Medikamentes, das mit einer Wahrscheinlichkeit von drei Prozent schwere Nebenwirkungen hervorrufen kann, reagieren wir anders, als wenn wir erklärt bekommen, dass es mit 97%-iger Wahrscheinlichkeit keine oder nur milde Nebenwirkungen haben wird — dabei ist das exakt dieselbe faktische Aussage.

 

Wie wir die vermeintlich objektive Realität wahrnehmen und in welchem Kontext sie für uns steht, kann einen erheblichen Einfluss auf unsere Reaktion oder Einschätzung haben. Daher ist die bewusste Veränderung unserer mentalen Perspektive ein sehr wirkungsvolles Mittel, um zu neuen Einsichten zu gelangen, unsere emotionale Reaktion zu verändern oder einen ersten Impuls zu reflektieren.

Perspektivwechsel, Umdenken, Reframing: Es gibt viele Begriffe für dasselbe Grundkonzept. Der Betrachtungsgegenstand — ein Problem, ein Phänomen etc. — wird sozusagen in ein neues Licht gerückt, indem man beispielsweise genauer hinschaut oder herauszoomt, indem man seine Dimensionen einordnet oder den Maßstab ändert.

Manche Reframings sind kleine Anpassungen unserer Sicht auf die Dinge, andere können unsere gesamte Überzeugung auf den Kopf stellen. Manchmal ist das eigentliche Umdenken ziemlich offensichtlich, die Auswirkung aber gewaltig.

Weil das alles ziemlich abstrakt ist, hier ein paar Beispiele für kleine und große Reframings, die sich für mich bewährt haben:


Heraus-Zoomen

Kosmische Bedeutungslosigkeit

Das beeindruckende Buch 4000 Wochen von Oliver Burkeman enthält ein Kapitel mit der Überschrift „Cosmic Insignifance Therapy“. Es ist die Text gewordene, ausführliche Variante dieses Memes:

Die Kernaussage des Textes – jeder von uns ist im großen Maßstab des Universums absolut unbedeutend – macht aus vermeintlich gewaltigen Anliegen auf einen Schlag irrelevante Kleinigkeiten.

„Wenn alles zu viel zu sein scheint, was könnte beruhigender sein als eine Erinnerung daran, dass unsere Sorgen, die Bereitschaft zum Herauszoomen vorausgesetzt, unmöglich von absolutem Nichts zu unterscheiden sind? Die Ängste, die das durchschnittliche Leben durchziehen – Beziehungsprobleme, Statusrivalitäten, Geldsorgen – schrumpfen augenblicklich bis zur Bedeutungslosigkeit. […] Sich daran zu erinnern, wie wenig man auf einer kosmischen Zeitskala zählt, kann sich anfühlen, als würde man eine schwere Last ablegen, die die meisten von uns vorher gar nicht bemerkt hatten.“ 1
—Oliver Burkeman in „4000 Wochen“

Mit hinreichenden Englischkenntnissen kann man sich hier das gesamte Kapitel durchlesen oder anhören.

Bewusstsein für den eigenen Lebensstandard

Den folgenden Text von Sam Harris habe ich schon in Ausgabe #30 geteilt. Er schafft es immer wieder, meine Sorgen und Frustrationen in Dankbarkeit zu verwandeln:

 

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

 

Ein Beitrag geteilt von Sam Harris (@samharrisorg)

“Mindestens eine Milliarde Menschen auf der Erde würden ihre Gebete als erfüllt betrachten, könnten sie den Platz mit dir tauschen.

Mindestens eine Milliarde Menschen auf der Erde leiden unter lähmenden Schmerzen oder politischer Unterdrückung oder akuter Trauer.

Deine Gesundheit zu haben, zumindest einigermaßen;
Freunde zu haben, wenn auch nur einige wenige;
Hobbys oder Interessen zu haben, und die Freiheit, ihnen nachzugehen;
diesen Tag frei von irgendeiner fürchterlichen Begegnung mit Chaos verbracht zu haben;

all das bedeutet, dass man zu den Glücklichen gehört.

Sieh’ dich um und nimm dir einen Moment, um zu erspüren, wie viel Glück du tatsächlich hast:

Du kannst einen weiteren Tag auf diesem Planeten verbringen. Genieße ihn.” 2


Herein-Zoomen

Gegenüber unserem vierjährigen Sohn, der manchmal schon erstaunlich erwachsene Formulierungen benutzt oder Körpersprache zeigt, verrutscht gelegentlich meine Perspektive. Dann verliere ich aus dem Blick, wie jung der Knirps noch ist, und erwarte Verhaltensweisen oder Einsichten, die ihm schlicht noch nicht zugänglich sind.

Für diese Momente, in denen ich mich selbst daran erinnern möchte, wie klein unser „Großer“ tatsächlich noch ist, habe ich mir zwei kleine Perspektivwechsel abgelegt:

Entweder schaue ich mir seine winzigen Hände und Füße an und vergleiche sie mit meinen. Oder ich sage — insbesondere in Momenten der Frustration — zu mir selbst oder anderen, die das frustrierende Verhalten mitbekommen:
„Er benimmt sich echt wie ein Vierjähriger!“ — denn genau das tut er.

Umkehrung

Eine dritte wirkungsvolle Form des Perspektivwechsels ist die Inversion — sozusagen das auf-den-Kopf-stellen oder Umkrempeln einer Thematik.

„Als Denkwerkzeug bedeutet [Inversion], sich einer Situation vom entgegengesetzten Ende des natürlichen Ausgangspunkts zu nähern.“
—Shane Parrish in The Great Mental Models Vol. 1 3

Diese Art des Umdenkens ist besonders wirkungsvoll, um entweder einen neuen Ansatz zur Problemlösung zu finden, wenn man nicht mehr weiterkommt, oder — für mich persönlich — wenn ich versucht bin, irgendeine Belastung zu beklagen, mich über einen Gesamtzustand zu ärgern oder zu viel Fokus auf einen vermeintlichen Mangel zu legen.

Zwei Beispiele für Inversion:

„Wie sähe das aus, wenn es einfach wäre?“
— Tim Ferriss

„Was für ein Privileg es ist, ein Haus zu beräumen, das gesunde Kinder unordentlich gespielt haben, das Geschirr zu waschen, weil wir heute drei Mahlzeiten zu essen hatten und die Wäsche zu machen, weil ihr Kleidung zum Anziehen habt.“
—Urheber unklar 4

In diese Kategorie passt auch das brutale Reframing, das mich kürzlich ins Waschbecken weinen ließ:

Auf diesem Instagram-Account teilt eine junge Frau öffentlich und sehr explizit den unfassbaren Schmerz, den ihr Mann und sie durchlitten und durchleiden, nachdem sie ihre Tochter nur zwei Tage nach der Geburt wieder verloren.

Die Tränen, die ich nach wenigen Beiträgen der jungen Mutter vergoss, waren Tränen des Mitleids, der Einsicht und vor allem der Dankbarkeit — denn mir wurde in diesem Moment erstmals wirklich bewusst:

Es gibt viel zu viele Menschen auf diesem Planeten, die alles dafür geben würden, von ihrem Kind frustriert zu sein — weil ihr Kind nicht mehr am Leben ist.

Mit einer wuchtigen Erkenntnis wie dieser im Hinterkopf fällt es sehr viel leichter, irgendwelche Missgeschicke oder Dummheiten des Kindes wegzuatmen.


Hinter all diesen Perspektivwechseln, groß wie klein, steht dieselbe Einsicht: Wir Menschen entwickeln oft vorschnell eine Meinung oder fällen ein Urteil — obwohl uns allen bewusst ist, dass es immer mehrere Betrachtungsmöglichkeiten gibt und dass es sich meist lohnt, mindestens eine weitere zu erfassen.

Die Fähigkeit, nicht direkt aus dem ersten Impuls heraus zu handeln oder schon nach einer ersten Einschätzung zu entscheiden, sondern nochmal aus einem anderen Blickwinkel auf ein Thema zu schauen, grenzt an eine Superkraft.
Nutze sie!


Dieser Text erschien ursprünglich als Ausgabe #86 meines Newsletters.

Fußnoten

  1. Original-Zitat: „When things all seem too much, what better solace than a reminder that they are, provided you’re willing to zoom out a bit, indistinguishable from nothing at all? The anxieties that clutter the average life—relationship troubles, status rivalries, money worries—shrink instantly down to irrelevance. […] To remember how little you matter, on a cosmic timescale, can feel like putting down a heavy burden that most of us didn’t realize we were carrying in the first place.“
  2. Original-Zitat: „There are at least a billion people on earth at this moment who would consider their prayers answered if they could trade places with you. There are at least a billion people who are suffering debilitating pain, or political oppression, or the acute stages of bereavement.
    To have your health—even just sort-of.
    To have friends—even only a few.
    To have hobbies or interests, and the freedom to pursue them.
    To have spent this day free from some terrifying encounter with chaos is to be lucky.
    Just look around you, and take a moment to feel how lucky you are.
    You get another day to live on this earth. Enjoy it.“
  3. Original-Zitat: “As a thinking tool it [inversion] means approaching a situation from the opposite end of the natural starting point.”
  4. Original-Zitat (in Abwandlungen): “What a privilege it is to clean a dirty house that was made by healthy children playing, wash the dishes because we had three meals today, and to do the laundry because you have clothes to wear.”